46 literarische Reportagen und Erzählungen schrieb Angela Rohr für die Frankfurter Zeitung aus der Sowjetunion. Neun Jahre lang – 1928 bis 1936 – berichtete sie vom Moskauer Alltag, reiste in Sibirien und in Mittelasien, nach Fernost und in den Kaukasus. 2010 erschien postum die Aufsehen erregende Sammlung Der Vogel, die ihre frühesten und späte Erzählungen enthält. Nun zeigt sich, daß das mittlere Werk, die Mitarbeit an der Frankfurter Zeitung, für die Autorin eine Schule des Schreibens über Rußland war.
„Wer war ich? Eine kleine Frau, nicht gerade häßlich und nicht besonders schön, mein Mut aber war ganz und gar unsichtbar, saß tief in mir, bis er endlich Zeit und Gelegenheit fand auszureifen. Das hat mit Eigenlob nichts zu tun, ich habe mich nicht nur für mich erhalten, ich möchte leben, um Leben zu geben. Ich war viele Jahre ein Korrespondent der Frankfurter Zeitung. Ich habe den Posten gehalten, solange er zu halten war.“ Angela Rohr, 1961.
Angela Rohr, geboren 1890 im alten Österreich-Ungarn, frühe Expressionistin, lebte in Wien, Paris, Zürich und Berlin, studierte Medizin und Psychoanalyse. 1925 ging sie mit ihrem Ehemann nach Moskau. 1941 verhaftet, zu 5 Jahren Lagerhaft und anschließender Verbannung verurteilt, arbeitete sie im Gulag als Ärztin. Nach ihrer Rehabilitierung 1957 kehrte sie nach Moskau zurück, wo sie 1985 starb. 2010 wurde sie als Autorin wiederentdeckt.
Margarete Steffin (1908 – 1941) fuhr im Frühjahr 1936 durch den Kaukasus und auf die Krim. Dabei entstanden Fotographien von großer Klarheit.
Gesine Bey promovierte über Robert Musil und war Dozentin für deutsche Literaturgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Sie lebt als freie Autorin und Herausgeberin in Berlin. Zehn Frauen am Amur ist nach Der Vogel (2010) und Lager (2015) ihre dritte Herausgabe einer Werksammlung von Angela Rohr.
Inhaltsverzeichnis
Reportagen
Moskau
11 Künstliche Blumen in Moskau (1928)
14 Weite Plätze (1928)
18 Filmatelier in Moskau (1930)
23 Moskauer Demonstration im Radio (1930)
27 Moskau wählt (1931)
32 Der Milizionär (1931)
37 Tschuschkin wird Puschkin (1931)
43 Chram Christa verfließt (1931)
49 Hundeausstellung in Moskau (1931)
55 Moskau baut (1932)
60 Moskauer Straßenbahn (1932)
69 Stern und Wassiljew (1932)
75 Bettler in Moskau (1932)
80 Ein Moskauer Gottesdienst (1933)
86 Spieler und Zuschauer. Das Internationale Schachturnier (1935)
91 Sechs Mädchen springen (1935)
95 Koopremont. Szenen aus einem Moskauer Schuhladen (1936)
Sibirien
101 Auf dem Wege nach Bira-Bidshan (1928)
104 Chabarowsk im Fernen Osten (1928)
108 Dunkle Tonfolge. Ein Bericht von den Amur-Kosaken (1929)
113 Brand am Amur (1929)
118 Ein Ritt am Chingangebirge (1929)
123 Warten am Bahnhof (1929)
Im Kaukasus und anderswo
129 Aus dem „turksibischen“ Lande Kasakstan (1930)
140 Anapa (1930)
147 Deutsche Bauern in Russland (1930)
155 Das Fest des Ali (1931)
165 Die Pelztierfarm (1931)
170 Das Modejournal des Kolchos (1932)
173 Die Eröffnung des Dnjeprstroj (1932)
Erzählungen
183 Zehn Frauen am Amur (1931)
207 Der Homöopath (1934)
223 Beschlagnahmtes Eigentum (1936)
279 Nikolaschka (1930)
290 Das unerwartete Lachen (1933)
296 Wo ist die Zeit? (1929)
301 Der Dickhäuter (1932)
303 Das Pferd Rodjuk (1932)
305 Gespräche (1933)
Bücher und Menschen
311 Louis Lewin. Der Lehrer (1930)
316 Eine Frau protestiert. Bemerkungen zu dem Buch: Agnes Smedley „Eine Frau allein“.
321 Im Moskauer Tolstoi-Museum. Zur 25. Wiederkehr des Todestages: 20. November 1935 (1935)
325 Tolstoi und Tschertkow (1937)
Berichte zur Politik
331 Abbau in der Sowjetunion (1932)
335 Kontrolle des Sowjetbürgers. Zur Einführung des Paßzwanges in der Sowjetunion (1933)
339 Stalins Gründe. Zu seiner Rede über den ersten Fünfjahresplan (1933)
Anhang
347 Nachwort
370 Zu den Fotografien von Margarete Steffin
378 Anmerkungen zur Edition
381 Bibliographie der Beiträge in der Frankfurter Zeitung
383 Bildnachweis
Rezensionsauszüge:
„Man kann bei der Lektüre der Textsammlung Zehn Frauen am Amur nicht von den Lebensumständen dieser jahrzehntelang verschollenen Autorin absehen, aber man muss sie nicht kennen, um von ihren Reportagen und Erzählungen aus der Sowjetunion hingerissen zu sein. Rohr hat sie zwischen 1928 und 1936 im Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« veröffentlicht, und es erfüllt einen mit Genugtuung, dass Rainer Maria Rilke ihre Begabung schon Jahre zuvor erkannt hatte. »Und wenn sie nun erzählt«, schrieb er 1920 an eine Freundin in der Schweiz, »die Tatsachen, die Einzelheiten, die Menschen, die Begegnungen, die Geschichte eines Buckligen, das Dasitzen einer Bettlerin, eine weinende Frau beschreibt, eine Nacht im Circus, und was sich daraus ergab, einen Abschied an einer Straßenecke – so weiß man nicht, was man mehr anstaunen soll.« Die ungewöhnliche Perspektive – so könnte man Rilkes Briefnotiz fortführen – oder die innige Kenntnis des Gegenstands, die scharfsinnigen, unverbildeten Gedanken oder den eigenwilligen Tonfall. Die Herausgeberin Gesine Bey weist in ihrem ebenso engagierten wie informativen Nachwort daraufhin, dass Rohr in der Wahrnehmung von Menschen sehr stark auf Gesten und Mimik geachtet und sowohl für diese als auch zur Beschreibung von Zuständen oder Stimmungen Worte verwendet hat, die sich nur geringfügig von den gebräuchlichen unterscheiden und trotzdem wie neu wirken. In ihrem Erlebnisbericht aus Kasachstan zum Beispiel ist von einem »bergigen Leib« die Rede, vom »dumpfen Galopp« und von einer Unruhe, »viel zu groß, um in einem Körper Platz zu finden«.“
Erich Hackl über Angela Rohrs Zehn Frauen am Amur. In: KONKRET. Politik & Kultur 7/2018 (Buch des Monats), S. 59.